Was ist ein Befunderhebungsfehler bei der Krebsdiagnose?
Der mit Abstand häufigste und für Patienten juristisch vorteilhafteste Fehler ist der sogenannte Befunderhebungsfehler. Dieser liegt vor, wenn:
- Eine medizinisch notwendige Untersuchung (z.B. Biopsie, MRT, Koloskopie) trotz eines Verdachtsmoments gar nicht erst durchgeführt wird.
- Ein erhobener Befund (z.B. ein auffälliger PSA-Wert, ein Schatten auf dem Röntgenbild) nicht die gebotene weitere Abklärung nach sich zieht.
Das ist ein entscheidender Unterschied zum reinen „Diagnoseirrtum“, bei dem ein Arzt alle Befunde korrekt erhebt, sie aber falsch interpretiert. Ein Diagnoseirrtum ist juristisch schwerer anzugreifen. Ein Befunderhebungsfehler hingegen führt bei grobem Verschulden fast immer zur Beweislastumkehr: Nicht mehr Sie müssen beweisen, dass der Fehler zum Schaden führte, sondern der Arzt muss beweisen, dass der Schaden auch bei korrektem Handeln eingetreten wäre – was selten gelingt.
Fallbeispiel 1: Prostatakrebs und der ignorierte PSA-Wert
Ein klassischer Fall ist die Vorsorge beim Mann. Der PSA-Wert ist ein wichtiger Indikator. Ist dieser Wert deutlich erhöht oder zeigt er über die Zeit einen signifikanten Anstieg (PSA-Anstiegsgeschwindigkeit), besteht der dringende Verdacht auf Prostatakrebs. Medizinscher Standard ist es dann, eine weiterführende Diagnostik wie eine multiparametrische MRT (mpMRT) und/oder eine Biopsie zu veranlassen. Wird dies mit dem Argument unterlassen, der Patient habe ja keine Beschwerden, liegt ein schwerwiegender Befunderhebungsfehler vor. Gerichte haben hier bereits Schmerzensgelder im hohen fünfstelligen Bereich zugesprochen.
Fallbeispiel 2: Brustkrebs und die fehlerhafte Mammographie
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Mammographie. Wird hier ein verdächtiger Mikrokalk oder ein unklarer Herd entdeckt, muss dieser zwingend weiter abgeklärt werden, z.B. durch eine Stanzbiopsie. Empfiehlt der Radiologe fälschlicherweise nur eine Kontrolle in einem Jahr, obwohl eine sofortige Abklärung geboten wäre, haftet er. Auch der weiterbehandelnde Gynäkologe haftet, wenn er diese Empfehlung nicht kritisch hinterfragt und die Patientin beruhigt. Wird der Brustkrebs deshalb ein Jahr später in einem fortgeschritteneren Stadium entdeckt, mit der Folge, dass Lymphknoten befallen sind oder eine vollständige Brustamputation (Mastektomie) statt einer brusterhaltenden Therapie nötig wird, begründet dies hohe Schmerzensgeldansprüche.
Fallbeispiel 3: Hautkrebs – wenn ein Muttermal falsch eingeschätzt wird
Beim Hautkrebs-Screening gilt die ABCDE-Regel als Standard. Verändert sich ein Muttermal, ist es asymmetrisch, unregelmäßig begrenzt, mehrfarbig oder im Durchmesser wachsend, muss es entfernt und histologisch untersucht werden. Ein Arzt, der ein solches verdächtiges Mal nur beobachtet oder als harmlos abtut, begeht einen schweren Fehler. Wird später ein malignes Melanom mit bereits erfolgter Metastasierung diagnostiziert, sind die Heilungschancen drastisch reduziert.